Unsere Welt steht still – Samstag

Unsere Welt steht still – Samstag

6.8.

Ich bin die ganze Nacht bei dir geblieben und habe deine Hand gehalten. Morgens um 10 Uhr mussten wir aus deinem Zimmer. Ricci und ich haben in einem Park gesessen und gewartet. Um 12 Uhr kam der Anruf, dass wir wieder kommen könnten.

Ich habe Bilder von dir in meinen Status gestellt, so daß dann alle wussten, du bist gestorben.

Für uns hat sich nichts geändert, durch die kommende Organspende konnten wir weiter bei dir sein, dich streicheln und küssen.

Um 14 Uhr kam der Koordinator für die Organspende. Wir haben darum gebeten, daß wir soviel Infos wie möglich bekommen.

Der OP-Termin wurde auf Mitternacht festgesetzt, uns sollte nicht zugemutet werden, noch länger zu warten.

Wir haben beschlossen, das Zimmer und dich um 23 Uhr 15 zu verlassen, wenn du für die OP vorbereitet wirst. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ich zusehe, wie du endgültig aus dem Zimmer geschoben wirst. Der Termin wurde um eine halbe Stunde nach hinten geschoben. Um 23:40 sind wir nach Hause gefahren.

Unsere Welt steht still – Samstag

Unsere Welt steht still – Freitag

5. August

Das Nachtteam war so lieb und hat sich die Mühe gemacht, dich an einer Seite so weit zu entkabeln und etwas mehr an die Seite zu legen, so dass ich ganz knapp auf der Kante neben dir liegen und einen Arm über dich legen konnte. Ich habe dich bestimmt eine viertel Stunde nur gefragt: „Warum hast du das gemacht?“, nur geheult und dich gehalten. Danach wurde ich ganz ruhig. Es war so schön neben dir zu liegen!

Im Laufe des Tages wurde ein Bett für uns ins Zimmer gebracht. Neben dir zu liegen und dich zu berühren, hat uns „entspannt“. Das Gefühl war eine Erinnerung an die Zeiten, wenn du krank warst und wir neben dir gelegen und dir beim Schlafen zugesehen haben.

Morgens habe ich wieder eine Liste gemacht, wer noch von dir Abschied nehmen kann. Am Abend vorher hatte ich Ricci erzählt, dass L. unbedingt kommen wollte, ich sie und ihre Mutter aber nicht zu dir lassen wollte. Ich wusste ja von deiner Not, dass du dich nicht mit ihr treffen wolltest, aber es ihr nicht einfach sagen konntest. Ricci meinte, wir hätten doch beschlossen, alles für die Kinder zu tun, vielleicht hätte L. ein schlechtes Gewissen. Also kam auch L.. Johanna wollte auch kommen, sie hatte dir einen Brief geschrieben, sie wusste aber nicht, ob sie es schafft. Ich konnte das voll verstehen. Sie hat mir den Brief ans Krankenhaus gebracht und Ricci hat ihn dir vorgelesen.

Mittags hatten wir wieder ein Gespräch mit den Ärzten. Nachdem morgens bei uns noch EKGs geschrieben wurden und wir die Zustimmung zu genetischen Blutuntersuchungen gegeben hatten, wurde uns mitgeteilt, dass die im Blut nachgewiesene Menge von Flecainid so hoch war, dass dies eindeutig die Todesursache war. Die Ärzte hatten eine Vergleichskurve von jemandem, die 9 Tabletten genommen hat. Genau sagen konnten die Ärzte nicht, wieviel du genommen hast, da hier Gewicht, Einnahmezeitpunkt, Blutabnahmezeitpunkt und Konstitution Einfluß haben. Dies hatten die Ärzte bereits der Polizei mitgeteilt und dass Okay erhalten, dass es auf jeden Fall keine Obduktion geben würde.

Uns wurde auch mitgeteilt, dass die Protokolle am Samstagvormittag durchgeführt würden. Da bereits morgens ein EEG mit 0-Linie aufgezeichnet worden war, konnten die beiden Ärzte ohne den 12-Stunden-Abstand deinen Tod feststellen. Erst danach konnte die Vorbereitung der Organspende anlaufen, das Ganze konnte sich bis zu 48 Stunden hinziehen.

Unsere Welt steht still – Samstag

Unsere Welt steht still – Donnerstag

4. August

Als ich in der Nacht wieder ins Krankenhaus gekommen bin, hatte ich den Ärzten mitgeteilt, dass wir der Organspende zustimmen. Ich war sofort dafür, da ich mich an unser Gespräch erinnert habe, das wir geführt haben, als du Organspende in der Schule hattest. Ricci hat daraufhin auch zugestimmt.

Während die Familie und Ezmira zu dir durften, sind Ricci und ich immer wieder um das Krankenhaus gelaufen und haben geredet:

Was machen wir? Können wir weiterleben? Verkaufen wir das Haus? Bestellen wir einen Container und schmeissen alle deine Sachen weg? Was soll es für eine Beerdigung geben? Kaufen wir ein Wohnmobil und hauen einfach ab?

Wir wussten, dass wir das meiste nicht sofort entscheiden konnten. Die einzige Entscheidung, die wir an diesem Tag getroffen haben war, dass wir eine Trauerfeier machen, die gerade den Freunden, Klassenkameraden und Bekannten Raum gibt, zu trauern. Wie sollten Kinder das Ganze verstehen und damit leben, wenn wir als Erwachsene das nicht können? Wir haben uns vorgenommen, alles zu tun, was den Kindern hilft, mit der Situation umzugehen.

Irgendwann kam dann noch die Polizei. Diese musste ausschließen, dass es keinen Einfluß von Aussen gab, der dich dazu gebracht hat, die Tabletten zu nehmen.

Auch gab es erste Ergebnisse der Blutuntersuchung, allerdings noch keine genauen Mengen. Flecainid, Riccis Rhythmus-Medikament, wurde nachgewiesen. Lt. seinen Aufzeichnungen, die er zu den Rhythmusstörungen (Datum, Länge der Störung, Einnahme vom Medikament oder Ende der Störungen ohne Medikament) gemacht hat, fehlten 2 Tabletten.

Die Ärzte überlegten, ob du nicht vielleicht Riccis Herzprobleme geerbt hast.

Ich habe wieder ein paar Stunden zu Hause geschlafen und bin wieder ganz früh zu dir gefahren.

 

Die letzten 20 Tage

Die letzten 20 Tage

Nach Paulas Tod hatte ich Monate keine richtige Erinnerung an diese Zeit, diese kam erst nach und nach -aber nicht vollständig- wieder.

Wir hatten viele Einladungen/Verabredungen, die wir gemeinsam wahrgenommen haben, ansonsten hat Paula öfter bei Ezmira geschlafen oder Ezmira bei uns. Ich bin mit den Beiden zu Ikea gefahren, habe Paula im Nagelstudio für ihre heißersehnten falschen Nägel abgeliefert. Die Beiden waren in Bonn, Köln und Koblenz, Benji hat hier übernachtet, die Beiden haben Sushi gemacht und Nachts noch Einhorn-Muffins gebacken. Paula hat mit Johanna Roblox gespielt und war mit ihr zum Übernachten verabredet. Es gab Streit wegen Unordnung, ewigem „Ja, ja , mache ich!“ ohne das etwas passierte, der ganz normale Wahnsinn. Sie hatte ihre Periode und meinte: „Komisch, diesmal bin ich nicht aggressiv, sondern kuschelig!“ Wir haben uns immer wieder in den Arm genommen, wenn sich unsere Wege kreuzten. In den letzten Tagen hat sie auf dem Balkon noch auf meinem Schoß gesessen und Ricci, Paula und ich haben uns lange unterhalten.

Am letzten Samstag hat sie mein Auto sauber gemacht. Damit wollte sie sich etwas Geld verdienen. Eine Einweisung bzw. Tipps wollte sie nicht, sie könne das alleine. Ricci hat ihr irgendwann gesagt, dass sie etwas anders machen sollte, es gab Schreierei, auch mit mir. Sie kam rein, hat mich angemotzt, sie könne nicht mehr, das wäre zu anstrengend und überhaupt. Ich habe erwidert, dass es kein Wunder ist, wenn sie die Nacht zum Tag macht und kaum Lust hat, etwas Sinnvolles zu machen. Sie ist sauer in ihrem Zimmer verschwunden. Nach ca. einer Stunde Beruhigungszeit bin ich in ihr Zimmer, sie hatte sich abreagiert. Wir haben zusammen die Reinigungsutensilien weggepackt, beschlossen, dass mein Auto ein Fall für Profis ist, wir dafür in den nächsten Tagen zusammen den Carport abwaschen. Wir haben zusammen gekocht, gegessen und einen Film geschaut. Danach hat Paula noch mit Johanna Roblox gespielt.

Sonntag war belanglos, Paula sollte eine Viertelstunde Mathe üben, meinte aber, Sonntags würde sie nicht lernen. Also dann am Montag um 10 Uhr.

Montags wurde sie nicht pünktlich wach, musste dann noch Stunden ins Bad, unbedingt noch etwas essen, etc.. Ich musste ab 13 Uhr 30 eine Online-Schulung geben und habe ihr gesagt, dass sie alleine lernen muss, wenn sie weiter so trödelt.

Sie wollte nach dem Lernen zu Ezmira und auch dort schlafen, für mich kein Problem. Um 13:30 habe ich am Schreibtisch gesessen, eine halbe Stunde später sehe ich Paula zum Bus rennen, natürlich ohne einmal ins Matheheft geguckt zu haben.

Ricci kam Abends nach Hause und war erstaunt, dass Paula bei Ezmira schlafen wollte. Er hatte sich extra den Dienstag frei genommen, um mit ihr ins Phantasialand zu fahren. Das hatte sie wohl vergessen. Wir haben hin- und herüberlegt, sollen wir sie anrufen oder hat sie halt Pech gehabt, wenn sie selbst ihre Wünsche vergisst. Die Entscheidung wurde auf Dienstagmorgen verschoben.

Dienstagmorgen haben wir entschieden, dass Keiner hinter ihr herläuft, damit sie Spaß im Phantasialand hat. Wir haben uns die Hunde geschnappt und sind nach Wolperath an die Talsperre gelaufen.

Die letzten glücklichen Momente.

Um  13:00 waren wir nach 15km wieder zu Hause.  Ricci hat sich auf die Couch gelegt, ich mich aufs Bett. Keiner hat geschlafen, wir haben einfach den freien Tag genossen. Um 13:30 kam Paula. Sie hat mit Ricci gesprochen, kam dann zu mir. Das erste was sie sagte, war, ob sie an dem Tag wieder bei Ezmira schlafen darf. Ich meinte, sie solle erst einmal Mathe machen, dann würden wir weiter sehen. Und schon ging das Geschrei los: „Ich finde das Übungsheft nicht…du versaust mein Leben, wenn ich nicht raus darf…mir geht es so schlecht und dich interessiert das nicht…etc.. Warum es ihr schlecht ging, konnte sie mir nicht sagen. Ich habe ihr gesagt, sie solle das Heft suchen, sonst würde ich ein neues bestellen und sie müsste am nächsten Tag eine halbe Stunde lernen.  Sie ging motzend und Türe knallend raus. Ich habe auf die Uhr geguckt und dachte, lass ihr bis 15 Uhr mal Zeit, dann hat sie sich wieder beruhigt. Sie war zwischendurch im Bad und in der Küche. Ihre letzte Whatsapp-Nachricht war um 14:19. Um 15 Uhr habe ich mir einen Kaffee gemacht und in Ruhe eine geraucht, dann bin ich in Paulas Zimmer…

Unsere Welt steht still – Samstag

Unsere Welt steht still – Mittwoch

3. August

Nach zwei Stunden Schlaf, einer Dusche und Kaffee bin ich wieder ins Krankenhaus gefahren. Ich wurde nicht reingelassen, musste fahren um einen Coronatest zu machen, auf das Ergebnis warten und kam um 11 Uhr wieder zu dir.

Das Erste, was ich gesehen habe, war, dass der Sauerstoffwert deines Gehirns gesunken war. Während ich nicht da war, wurden deine Handbewegungen untersucht, ob es eine Spastik war.

Irgendwann in den letzten Tagen kam mir die Idee, dass du vielleicht aufgegeben hast, als ich weg war.

Um 12 Uhr haben sie dich ins MRT geschoben. Als du wiederkamst, konnte man dem Arzt schon ansehen, dass es nichts Gutes gab. Dein Gehirn war angeschwollen, du bekamst abschwellende Medikamente und sobald du richtig versorgt warst, wollten sie mit uns reden.

Das Gespräch fand um ca. 15 Uhr statt.

Ich hatte vorher im vorbeigehen auf einem Monitor im Flur ein MRT-Bild von einem Kopf gesehen, dass zur Hälfte nichts gezeigt hat, das konnte aber nicht dein Gehirn sein!

Wir sind mit den Gedanken, dass sie uns sagen, dass du schwerstbehindert bleiben wirst oder sie dir den Schädel aufschneiden werden, in das Besprechungszimmer gegangen.

Beim Gespräch wurde uns mitgeteilt, dass sie die Zeiten zusammengerechnet haben, in denen dein Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt wurde. 1,5 Stunden! Die Reanimationsmaßnahmen, die im Krankenwagen/Krankenhaus durchgeführt wurden, hätten aus medizinischer Sicht nicht mehr durchgeführt werden sollen. Dein Gehirn war so angeschwollen, dass es keinerlei Durchblutung mehr gab, damit war die Hoffnung, dass du wenigstens mit einer Behinderung bei uns bleibst, dahin. Du warst tot und wurdest nur durch die Geräte am Leben gehalten.

Das weitere Vorgehen bei Hirntod war, dich aus dem künstlichen Koma zu holen, die Medikamente weitgehendst wegzulassen und dann nach offizieller Feststellung des Hirntodes die Geräte abzuschalten. Es konnte natürlich auch jederzeit passieren, dass dein Herz aufhört zu schlagen.

Ricci und ich waren in einem Tunnel. Wir konnten verstehen, was uns gesagt wurde, konnten Entscheidungen treffen (Organspende), wir konnten an andere denken (Kann die Familie trotz Corona und Intensivstation Abschied nehmen?), wir konnten heulen und schreien vor Schmerz, aber begriffen haben wir es nicht.

Am Spätnachmittag sind wir nach Hause gefahren, haben die Familie informiert, wollten uns etwas ausruhen, aber ich konnte nicht bleiben. Ich bin wieder zu dir gefahren, irgendwann mitten in der Nacht nach Hause zwei Stunden schlafen und wieder zu dir. Ich wollte dich noch so viel wie möglich ansehen und anfassen, auch wenn das wegen der ganzen Schläuche und Apparate kaum möglich war.

Mittwochabend durften Oma Gilla u. Opa Heiner schon zu dir. Für den Donnerstag mussten wir eine Liste schreiben, wer wann kommen wird.

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